Zum Singen: Aretha Franklin und der tolle Musik-Film “Amazing Grace”

Von Sandra

How I got over / How did I make it over /You know my soul look back and wonder /
How did I make it over / How I made it over / Going on over all these years / You know my soul look back and wonder / How did I make it over.“ (Aretha Franklin)

Wir sehen Los Angeles aus der Vogelperspektive, dazu einen Text: „1971, nach 20 Studioalben, including elf No.1 Hits, beschließt Aretha Franklin, dass sie zu ihren musikalischen Anfängen zurückkehren und ein Gospelalbum aufnehmen möchte.“

1972 gibt sie deshalb in der Missionar Baptist Church in Watts, Los Angeles an zwei Tagen das Konzert, das wir heute, 47 Jahre später, auf der Kinoleinwand miterleben dürfen.Festgehalten wurde das Konzert von einem Filmteam unter der Regie von Sydney Pollack. Aufgrund zunächst technischer, später juristischer Schwierigkeiten wurden die Aufnahmen nie öffentlich gezeigt. (Aretha Franklin, die als Mitproduzentin im Abspann geführt wurde, wollte nicht, dass der Film gezeigt wird, und so erscheint er jetzt erst  – nach ihrem Tod am 16.8.2018 –  was das Vergnügen, den Film zu sehen etwas mindert, weil eine*r sich die ganze Zeit fragt, WARUM sie wohl nicht wollte, dass der Film gezeigt wird und ob es dann überhaupt ok ist, ihn sich anzuschauen). 

Anyway: aus heutiger Sicht wissen wir, dass das Album AMAZING GRACE, das die Queen of Soul bei diesem mitreißenden Auftritt aufnahm –  zusammen mit dem grandiosen und unterhaltsamen Southern California Community Chor, der Gospel-Legende Reverend James Cleveland und ihren tollen Mitmusikern z.B. an der E-Gitarre – die meistverkaufte Gospel-Platte aller Zeiten ist!

Aber während es entstand, konnte das noch keine*r wissen, vielleicht höchstens erahnen, denn es war eine zutiefst mitreißende Session und überhaupt ziemlich beeindruckend, dass Aretha Franklin vor Publikum ein Album aufnahm. Sie wirkt höchst konzentriert und in sich gekehrt, wie sie die Lieder, und jede Strophe, und jedes Wort, und jede Silbe,  singt: berührend und  aufrührerisch, so melancholisch wie tanzbar. Doch genauso wie Aretha Franklin die ganze Zeit bei sich ist, ist sie auch spürbar beim Publikum, ihre Freude und Erschütterung geht auf die begeisterten Zuhörer*innen über, die bald nichts mehr auf den Kirchenstühlen hält. Es wird getanzt in der Kirche, mitgesungen, gerufen, geflüstert und geweint. Reverend James Cleveland, der Franklin, wenn diese nicht gerade selber spielt, am Klavier begleitet und den Abend wunderbar-humorvoll durchmoderiert, als wäre er im Zweitberuf Comedian, beschwört die Leute im Publikum „so zu klatschen als wären es 2000“. (Es sind vielleicht 300).

Das ist kein Filmausschnitt, sondern Lied auf youtube 🙂

 

Und dann sind da noch diese ganz besonderen Momente: Reverend James Cleveland ist so berührt und agitiert vom Gesang Aretha Franklins, dass er von seinem Klavierhocker aufsteht, sich ins Publikum setzt und seinen Tränen freien Lauf lässt.

Besonders schön ist es auch, wenn die Sängerin selber in die Tasten haut, weil sie beim Klavierspiel genauso präzise betont wie beim Singen und man so beim Zuschauen ihres Spiels merken kann, wie die Gesangsbetonungen gemeint sind. 

Ihr Vater C.L Franklin, der bekannte US-amerikanische Baptisten-Prediger und Bürgerrechtsaktivist,  ist im Publikum und hält dann eine tolle Rede. Eine Frau habe gestern in einem Geschäft zu ihm gesagt, “Ihre Tochter war toll neulich im TV, aber ich frage mich, wann wird sie zur Kirche zurück kehren?” Mr Franklin  sagt, darauf habe er entgegnet:  “But Aretha has never left the church”. Wir Zuschauer*innen an der Leinwand können das bezeugen: Aretha am Altar, hinter ihr an der Wand ein gemaltes Jesus-Porträt. Außerdem erzählt C.L. Franklin, seine Tochter habe schon als Kind stundenlang gemeinsam mit seinem Freund Reverend James Cleveland gesungen und sich die Lieder zu eigen gemacht. Das erklärt dann plötzlich auch das traumwandlerische Zusammenspiel der beiden.

Clara Ward, US-amerikanische Gospelsängerin, Komponistin und Arrangeurin, erklärtes Vorbild von Aretha Franklin, wurde als Ehrengast eingeladen und sitzt diva-esk, und sichtlich aufgewühlt, im Raum.

Wie sie „How I got over“ singt! Die Leute vom Chor hängen an ihren Lippen, singen mit und gehen mit, wie bei einem Fußballspiel, schießt sie den Ball der Hookline ins Tor? Volltreffer, of course, jedes Mal! 

Mick Jagger ist im Publikum, er steht ganz hinten,  staunt und tanzt. Und ich muss an das 2018 erschienene Rolling Stones “Confessin`the Blues”-Album denken, eine Compilation, auf dem die Stones Songs von alten Blues-Helden covern, “damit Fans auf der ganzen Welt ihre Einflüsse kennen lernen”; Howling Wolf, Chuck Berry,  John Lee Hooker. 

Schaut euch den Film unbedingt an! Er ist wie Livekonzert, nur besser!