Julie Burchills Buttercremeherz

 Von Wunderkindern und enterbten Erben

 

»Wieder überkam ihn ein Gefühl von Heimweh, in dem fast so etwas wie Patriotismus mitschwang. Es war die Sehnsucht nach einem Ort, zu dem es, anders als nach England, keine Rückkehr mehr gab; die Sehnsucht nach eben jenen leichtlebigen, sexgetränkten, habgierigen achtziger Jahren.«

Die 80er Jahre in der nostalgischen Rückschau und England als neue Identität? Essentials des zweiten Julie Burchill-Romans ›Exit Out‹ (dt: ›Die Männer der Maria V.‹). Daß auch in den 80ern nicht jeder alles haben konnte, das hat Burchill Mitte der 80er noch gewußt, als sie den thatchermüden arbeitslosen Jugendlichen vorhielt, daß die neuen Jobs, die sie fordern, ganz normale, langweilige stinkende Fabrik-Jobs sein werden – und keine coolen Jobs als Schreiber bei The Face oder als Popstar. ›Ambition‹, ihr Spät-80er-Roman Debüt, handelte vom Preis des Aufstiegs von ziemlich weit unten nach ganz oben. Burchill lieferte Entwürfe für einen angeblich neuen Sozial-Typus, nannte ihn »Bourgeois-Feminist-Triumphalism« und erklärte das »Ausnahme-von-der-Regel-Sein« zum wichtigsten Programmpunkt: und das ging bei ihr nahtlos von Punk, Style und anderen Formen von Re-Invention über zur Siegesfeier eben des patriarchalisch-reformistischen Modells »Ausnahmefrau« und schließlich zum thatcheristischen Neue-Elite-Denken.

Das hat den Zeitgeist-Blättern natürlich gut gefallen; das Neue-Elite-Denken kannte keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mehr, sondern nur noch Frauen und Männer, die sich als gleichgestellte Partner auf einem Schlachtfeld gegenüberstanden – und wenn Burchill »die Waffen der Frauen« beschwor, dann konnte es nur das gute Recht der Männer sein, wieder zurückzuschlagen. ›Ambition‹ war aber trotzdem ein toller Roman. Gerade weil der Kolportage-Trash, das Fiktive und Überspitzte, auf die Brutalitäten des Sozialen abgestimmt war. Und wenn an ›Exit Out‹, ihrem nach dem selben Muster gestrickten 90er-Jahre-Roman irgendetwas gelungen ist, dann genau das. Was allerdings die Frage aufwirft: Say it like it is – oder zynischer Realismus?

Das Beste sind nach wie vor die Dialoge, diese Angriffs- und Verteidigungs-Raps. Sie sollte Sit-Comedys schreiben! Grandios auch, wie sie in dieses total ausgeleierte Genre, das Dramaturgie und Chronologie des Abenteuers immer schon vorbestimmt, kleine Subtexte und Wendungen einflicht, die zunächst ganz nebensächlich aus dem trübsten Alltag entwickelt werden, dann aber größer sind als alles Fiktive. Bis einem einleuchtet, warum der Held des Buchs gerade mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten telefoniert hat. Die Beibehaltung des formalen ›Ambition‹-Musters hat nicht nur mit Kommerz oder gar Einfallslosigkeit zu tun; noch ausschlaggebender scheint der Effekt einer spiegelbildlichen 80er/90er Gegenüberstellung zu sein. Und zwar mit Hilfe des gleichen Personentypus, der alten Sehnsüchte, der kleinen Revolten im Bestseller-Genre. Nur die Beobachtungen haben sich verschoben. Gerade so, als sei es gar nicht Burchills Weltbild, das sich verändert hat, sondern eben das Bild der Welt. Und wenn die 80er, das geile Stil-Jahrzehnt, nun mal leider leider nicht mehr zurückzuholen sind, dann muß man sich in den 90ern eben etwas anderes einfallen lassen.

Um weiter Flagge zu zeigen, hisst Burchill gleich die von England. Wenn sie früher Personen darstellte, fielen immer schon Style und Habitus zusammen; jetzt heißt die Entsprechung Nationalität und Charakter. Und da nationale Identitäten und Heimweh bekanntlich nirgendwo so schön sind wie im Ausland, verlegt Burchill ihren neuen Roman in den Ostblock. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wie sie ganz nebenbei das Bild einer CSSR entwirft, die die blühende Industrienation England zum Vorbild hat, wo doch inzwischen jedes Kind, das sonntags nach der ›Lindenstraße‹ auch noch den ›Weltspiegel‹ guckt, weiß, daß es gerade England ist, das sich kaum vom trüben Osten unterscheidet. Aber für diesen Zweifelsfall haben die Engländer eben ihren Stil, ihren britischen Humor und die Popmusik erfunden, während die Slowaken vor allem abergläubisch und sparsam sind.

 

Wie kommt Burchill zu ihrem Elitismus? »Enterbte Erben« sind laut Pierre Bourdieu solche, die zwar in der Familie alles Kapital mitgekriegt/geerbt haben, jedoch an Schule/gesellschaftlichen Erwartungen/der Entwertung von Uni-Abschlüssen gescheitert sind. Dem gegenüber stehen die »Wunderkinder«, die es ohne familiales Macht-Reproduktions-Kapital zu Karrieren gebracht haben. Gerade sie tendieren dazu, meint Bourdieu, freien Willen und Leistung am schärfsten zu verteidigen und die »enterbten Erben« am meisten zu verachten.

 

Shout to the top

 

Die Tochter aus der Arbeiterschicht hat aufgehört das zu verstehen und verzeiht heute keinem ins Privileg Hineingeborenen mehr das Scheitern. Der »enterbte Erbe« Gary und das »Wunderkind« Maria Vachss treffen in ›Exit Out‹ aufeinander zwecks sozialem Ausgleich. Gary war schon in ›Ambition‹ ihr Inbegriff eines Loser-Journalisten, der zwar aufgestiegen ist, es dann aber doch zu nichts brachte. In der CSSR bringt er es erst recht zu nichts, er bekommt keinen einzigen Auftrag – was ihn aber nicht allzu sehr schmerzt, schließlich ist er Brite. Und so ist das einzige, was ihm bleibt, ein entwerteter Ausweis der BBC, diesem immerhin weltwichtigsten Radiosender – und Maria Vachss. Er kriegt etwas ab von ihrem visuellen Strahlen (das allerdings auch nicht ganz ungetrübt ist), und sie von seinem »Ruhm«, denn in England wartet mindestens das Paradies auf ihn.

Der Osten der 90er Jahre bietet Burchills ewiger großer Erzählung vom Aufstieg der Wunderkinder reichlich Widerstände, Verhakungen und Zwänge. Längst geht es Maria Vachss nicht mehr, wie Susan Street in ›Ambition‹, darum, von den scheußlichen Provinz-Ehemännern wegzukommen. Sie braucht vielmehr so einen scheußlichen amerikanischen Provinz-Ehemann, um aus der, laut Burchill, noch scheußlichereren Provinz CSSR rauszukommen. Auch der spaßige Konsum von Sex und Markenartikeln, samt dazugehörigem trashigen Abspielen von Sortiment und Stellung, hat sich in sein dunkles Gegenteil verkehrt. Jetzt muß Maria Vachss aufpassen, daß sie nicht selber als Sex-Markenartikel verkonsumiert wird, wie so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, Stichwort Mädchenhandel. Und ein bißchen Prostitution nehmen die Protagonistinnen in Burchills 90ern nicht freiwillig, notgedrungen und gutgelaunt auf sich, um danach, wie in ›Ambition‹, den besten Job der Welt zu kriegen. Es wird ihnen vielmehr aufgezwungen und sie müssen froh sein, noch mit dem Leben davonzukommen.

Das ist schon eine so clever wie übertriebene Angleichung an neue Verhältnisse, und ja auch nicht unbedingt falsch. Eins steht jedenfalls fest: Julie Burchills letzter Rest an buttercremeherzigem Sozialmitleid gehört talentierten Mädchen aus der Provinz.

 

(KG, SPEX, 1993)