Die Geschichte der Männer in der Rockmusik

Exile in Guyville

 

Der Begriff »Girlism« erhitzt nach wie vor die Gemüter. Wann immer die Rede auf die neuen Girls im Musikbiz kommt, auf die »Megababes«, »Riot Girls« oder gar »Schlampen«, dient er als Überbegriff. Seit mehreren Jahren jongliert man nun schon in deutschen Avantgarde-Musikkreisen, und zunehmend auch außerhalb, mit diesem »Girlism«, was mittlerweile alles mögliche bedeuten kann. »Girlism« könnte man in etwa übersetzen mit »Rund ums Mädchen«, mit »Alles, was Mädchen zu Mädchen macht«, was bei mir immer die Assoziation »rund ums Baby« aufkommen läßt. Und das ist auch gar nicht so verkehrt, denn was Mädchen zu Mädchen macht, wird meist eher von frivolen älteren männlichen Erwachsenen definiert als von Mädchen selbst.

Mittlerweile ist der Begriff »Girl« jedoch via Amerika neu besetzt und umcodiert worden. Das seltsame Wesen »Girl« hat seine Definition in der ersten Hälfte der 90er Jahre eigenmächtig vorangetrieben, zumindest in wichtigen Randpositionen des Musikbusiness. Von den schüchternen Opfergesängen der Songwriterin Lisa Germano, die ihre neue LP ›Geek, The Girl‹, also das etwas verstockte Mädchen genannt hat, über den Mädchenfreundschafts-Pop der englischen Band Shampoo bis hin zum Schlampen-Rock von Hole und der spannend-feministischen Songwriterin Liz Phair: Mädchen sollten alles machen und alles sein dürfen.

 

Die Geschichte der Männer in der Rockmusik

 

Die Neubesetzung des Begriffs »Girl« ist in den USA erst dadurch möglich geworden, daß die revoltierenden Mädchen im Musikbusiness anfingen, die Bedingungen ihrer Unterdrückung zu reflektieren.

Nirgendwo erfährt man so gut, wie mächtig schon die heranwachsende männliche Jugend im Vergleich zur weiblichen ist, wie in den Büchern über Rockmusik; wie gerade junge männliche Kulturschaffende im Lauf der Jahre und im Verlauf der Geschichte Privileg über Privileg anhäufen konnten, ohne darüber ihre Credibility zu verlieren. Mir sei an dieser Stelle ein kurzer Ausflug nach Guyville gestattet.

»Bisher habe ich immer nur von Jungs gesprochen, aber natürlich gehören zur Jugend und zur Subkultur auch Mädchen«, schreibt der renommierte englische Rock-Soziologe Simon Frith auf Seite 262 in seinem Standard-Werk ›Jugendkultur und Rockmusik‹. Ich muß ihn an dieser Stelle verbessern. Er hat auf den vorangegangenen 261 Seiten nicht ausdrücklich von »Jungs« gesprochen, sondern von »der Jugend«. Wäre er ernsthaft an einer Korrektur interessiert gewesen, dann hätte er eingestehen müssen, daß sein Buch, das doch voll ist von universalistischen Aussagen über Jugendkultur, ausschließlich die Ausbruchsversuche und Bedürfnisse des männlichen Jugendlichen berücksichtigt.

Die fehlende Identifikation männlicher Musikjournalisten dürfte, eigentlich ganz banal, einer Territoriumserrichtung und -verteidigung dienen. Was immer sie auf ihren Spiel- und Bolzplätzen dann auch anstellen: Sie wollen sie für sich alleine haben. Als Orte, die einen entspannten und ungestörten Konkurrenzkampf verheißen. Wo man vielleicht sogar zukünftige Gesamtkonzepte und Kunstnetzwerke gründen und den abwesenden Frauen ein Schicksal zuweisen kann. Boys only.

Nirgendwo sonst sind Mädchen so offensichtlich »konstitutives Außen« (Derrida) wie in der Rockmusik. Im Außen dürfen Mädchen alles sein!

 

Was Mädchen sind

 

Mädchen sind doof. Mit Mädchen kann man Dates haben. Mädchen sind Göttinnen. Mädchen sind so anders als wir. Mädchen sind selber schuld, wenn sie nicht bei uns mitmachen wollen. Mädchen haben eben andere Interessen. Manche von ihnen sind ganz schön gemein. Mädchen sind Mädchen, manchmal sind sie Frauen. Mädchen können auch kleinere Schwestern sein, die nerven, weil sie alles kaputtmachen, zum Beispiel nicht wissen, wie man die HiFi-Anlage vorschriftsmäßig bedient. Sie können keinen Baß von einer Gitarre unterscheiden. Sie wissen nicht richtig, was ein Sampler oder ein Feedback ist. Sie tanzen auf »Jungle«-Sound, aber was wissen sie schon über seine exklusiven Zutaten? Mädchen haben’s gut: Die dürfen sich immer so in Schale werfen und zurechtmachen. Sie geben halt ihr Taschengeld für Kosmetik aus und nicht für Kraftwerk-Re-Releases. Im großen und ganzen sind Mädchen, wie Jungs sie meinen, definieren, mit Phantasien ausstatten, eigentlich ganz in Ordnung. Gegen die hat doch gar keiner was. Solange sie bleiben, wo sie sind.

Gebrochene Männer

 

Um ihre Rock-, Underground- und Techno-Stützpunkte für sich zu behalten, statten sich Jungs zuweilen auch mit »weiblichen« Attributen aus und verfallen in Matriarchats-Sehnsüchte. Die Glam-Rock-Szenen der 70er Jahre, die androgynen Stars der 80er, die männliche Gebrochenheit des Homerecording-Sounds, die verletzte Anrufung mütterlicher Geborgenheit in den Texten vieler Songwriter und im Wehleidigkeitskorsett des Wimps, die ozeanischen Geburtsmythen psychedelischer Rock-Weisen – sie tun alles, um die besseren Frauen zu sein, angetrieben von der Vorstellung, sie könnten noch sensibler, noch einfühlsamer, noch verletzlicher sein, gerade weil sie keine »echten« Frauen sind.

Sie folgen darin einem Modell der Verknüpfung von »Hysterie« und »Künstlichkeit«, das bezeichnend ist für androgyne Glam-Rocker wie David Bowie oder Marc Bolan, bis hin zur Tradition des kränkelnden-gekränkten »Love-Revenge«-Songwriters vom Typ Elvis Costello oder der härteren solipsistischen Variante à la Morrissey. Deren sehr wohlwollendes Umkehren der Rollen ist dabei aber immer noch mit dem Gefühl verbunden, den/die »Andere/n« nur zu spielen, beziehungsweise beide Rollen in einer Person zu verkörpern. Da dies Darstellen beider Rollen gerade von männlichen Künstlern oft mit einer bereits eingelösten feministischen Utopie, einer »traumhaften« Verwischung von Geschlechtergrenzen verwechselt wird, finden sich hier oft echte Verteidiger »popfeministischer« Ideen. Dabei werden jedoch meistens »Körper« oder »Emotionalität« als Verweis/Beweis angeführt – Stichwort »das dritte« oder »das vierte Geschlecht«, wogegen das Soziale als (Gegen-)Argument zwecklos erscheint. (Echte positive »Ausnahmen« gibt es im Bereich des experimentellen, nicht-dandyistischen Pop/Punk; mix-gendered Bands, die in der Tradition der Slits und der Raincoats verschiedene sich schon in Auflösung befindende gegenläufige musikalische Formen zusammenbringen.)

Der angenehm-herzliche Einfluß der Wimp-Szenen (Creation Records, K-Records) auf die schutzsuchende Riot-Girl-Bewegung wird oft unterschätzt. Musikerinnen konnten dort auf die Ideale der »starken«, »machtvollen«, »mütterlichen« Frau oder des gleichgesinnten, geschwisterlichen, kumpelhaften Mädchens zurückgreifen, um sich wenigstens mal Gehör zu verschaffen oder sich wohl zu fühlen. Dafür mußten sie allerdings in Kauf nehmen, sich an eben jenen, ihrem Selbstbild Konkurrenz machenden Typus zu wenden, der unter großen Klagen seine ansozialisierten männlichen Eigenschaften in scheinbar geschlechtsunspezifische, frei flottierende Identitäten, in einen Kult des Androgynen transformierte.

 

Der Rebell

 

Auch in Greil Marcus’ ›Mystery Train‹, seiner spannenden Reise durch die Traditionslinien des US-amerikanischen Songs, tauchen Mädchen nur als Fußnote auf, was der Autor wie folgt kommentiert: »Ja, das Auslassen von Frauen ist ein gedankenloser, ich wollte sagen sexistischer Fehler, aber das Wort ist zu schwach dafür. Ich hätte mir sagen müssen, das Buch ist falsch, es muß neu überarbeitet werden, und das nicht nur in Form eines Alibikapitels.«

Das Resultat ist nicht etwa, daß, wie im vorliegenden Fall, ein Greil Marcus sein Buch tatsächlich verworfen und ein neues geschrieben hätte, vielmehr hat er, um den nicht verhandelten Frauen den nötigen Respekt zukommen zu lassen, sogar noch auf ein Alibikapitel verzichtet. In seinem Hauptwerk ›Lipstick Traces‹, in dem es um die künstlerischen, literarischen und popkulturellen Gegenkulturen eines ganzen Jahrhunderts geht, werden zu 95% männliche Entwürfe verhandelt. Die weiblichen Spuren seiner Abenteuerreise haben sich allenfalls in den Titel des Buchs eingeschmuggelt. ›Lipstick Traces‹, die Spuren eines Lippenstiftes, vorgefunden am nächsten Morgen auf einer Zigarette.

Es scheint, als würden Texte der Rockmusik und die Dynamik des Musikgeschäfts Frauen am liebsten in genau dieser Rolle sehen: als grelle und flüchtige Abzeichen einer vergangenen besseren und kommenden, hoffentlich paradiesischen Zeit.

Das gilt vor allem für die »rebellisch-utopischen« Impulse der Rockmusik. Vom 60’s Garage Punk über die Rolling Stones bis hin zu Soundgarden. Sie laufen immer vor irgend etwas davon, auf ein zukünftiges Ziel zu. Der männliche Held ist immer unterwegs, und in der Gegenwart des Flüchtens ist er alleine oder mit seinen Kerlen zusammen. Von Frauen bleibt in dieser Welt nicht viel mehr als »Lipstick Traces on a Cigarette.«

Wird der Rock-Rebell dieses Zustands, dieses Walking-On-The-Edges, überdrüssig, dann macht er sich auf den Rückweg, um einen sicheren Ort zu finden, sich häuslich niederzulassen und schließlich doch einen Fuß ins mütterliche Paradies zu setzen. Er ist das jugendliche Abziehbild aller bürgerlichen Ausbruchsversuche: vom Land in die Stadt, von der Stadt aufs Land. Weg von der Familie, hin zur Familie. Dementsprechend sind auch die Worte, die die Publikumspresse für ihn erfindet: In jungen Jahren gilt er als normaler, massenhaft verbreiteter unruhiger Jugendlicher. Je älter er wird, desto häufiger verfolgen ihn Vokabeln wie »Aussteiger« oder »Eigenbrötler«, ja, er backt sein eigenes Brot, auch wenn er wieder zurückgekehrt ist, in den Kreis und in die Küche seiner Lieben. Er ist im Grunde seines Herzens ein Rebell und ein Kind geblieben.

Die Zeitungen sind voll von so rockenden Rebellen, denen selbst die herrschsüchtigste und egozentrischste Ehefrau nicht ihr kreatives Stromkabel hat abschneiden können. Von Neil Young bis Van Morrison, von Rod Stewart bis Prince Charles: der Kult um rollende Altersheime, seien es nun Tourneen von Pink Floyd, den Rolling Stones oder die Ehescheidungen graumelierter Schauspieler oder Rockmusiker, trägt allein dieser Sorge Rechnung: Wie kann man mit Ganzkörperverpflegungsansprüchen trotzdem noch Rebell und Kind bleiben? Eine nicht unwichtige Zukunftsangst plagt, in anderen Worten, die legendären Typen der Rockmusik: Wie stelle ich es an, mein ganzes Leben im Männerverbund zu verbringen, ohne aus der menschlichen oder der weiblichen Gesellschaft ausgeschlossen zu werden?

Für Anregungen und Tips fragen Sie Ihren örtlichen Plattenhändler nach Schallplatten von: Neil Young, Willie Nelson, Mike Watt. Oder gehen Sie einfach in Ihren nächsten 2001-Laden.

 

Riot Girl und der Ort der Familie

All diese von Männern geprägten Freakscenes hatten und haben immer noch die Möglichkeit, die Furcht vor Repressionen in Beziehungen zu regulieren, an Frauen weiterzugeben oder in familienähnlichen Großcliquen zu veredeln. So schreibt beispielsweise Diedrich Diederichsen in einem Aufsatz über die Filme des Künstlers Raymond Pettibone, die das Leben der einflußreichsten avantgardistischen Gruppen der letzten zwanzig Jahre widerspiegeln, daß »in allen vier Filmen subkulturelle Zusammenschlüsse als Idee von Jungs dargestellt« werden, die dem Zweck dienen, »Mädchen in eine Gruppe zu integrieren, die wie, aber nicht die Familie ist und die ihnen gesetzliche Verfügungsrechte sichert.«

Riot Girl kann als das Gegenteil dieses Sicherheitsdenkens angesehen werden, denn es handelt sich um eine Entscheidung für einen instabilen, unsicheren Ort. Die traditionelle Einheit Familie als Zufluchtsort kann von den Riot Girls ebenso wenig aufgesucht werden wie die machtvollen Ersatzfamilien des (indie-)kulturellen Lebens. Der eigentliche Subtext der Riot-Girl-Bewegung sagte ja: beides sind Orte der Verwüstung und Vereinnahmung. Das wird nirgendwo so deutlich wie auf der neuen, vielgefeierten All-Stars-LP des einflußreichen Ex-Minutemen-, Ex-Firehose-Bassisten Mike Watt. Die gesamte Rock-Elite dieses Jahrzehnts spielt darauf mit: von den »ewig unterschätzten« SST-Heroen Meat Puppets über die Alternative-Teenie-Rockband Soul Asylum bis zu Sonic Youth’s Thurston Moore, Henry Rollins und Eddie Vedder von Pearl Jam. Musiker, die in starker Konkurrenz zueinander stehen, schließen sich in trauter Eintracht zusammen, um das Konzept »Band« als »Kollektiv« wieder auferstehen zu lassen.

Allein, es findet kein Austausch statt, mit den neuen spannenden Künstlerinnen und Girl-Bands ihrer Dekade. Vielmehr wirkt das Album noch wie eine familiäre Festung gegen eine Feminisierung der Rockkultur. Die einzige songbeisteuernde Frau ist Carla Bozulich, die vor allem die persönlichen Lobeshymnen auf Mike Watt vorträgt. In anderen Worten: Die einzige an dem ach so epochalen Werk beteiligte Frau macht’s für den Projektleiter.

Dann ist da allerdings noch Kathleen Hanna von Bikini Kill – die keinen Song, sondern ein Statement beiträgt, wenn sie, die Realität des konstitutiven Außens einspielend, auf den Anrufbeantworter von Mike Watt flucht: »Einer Eurer Rockhelden hat meine beste Freundin vergewaltigt, als sie 13 war. Ich sag nicht, wer es war, aber ich bin zu cool für euer fucking Concept!«

Diese CD, die alle neuen, von zeitgenössischen Musikerinnen ausgehenden Impulse mit der Beteiligung einer »Ausnahme«-Frau und einem kurzen Spoken-Word-Set abtut (vielleicht sollte man noch erwähnen, daß auf Watts’ LP nach dem Kathleen-Hanna-Anrufbeantworter-Text, ein etwa 15-minütiges Gitarrensolo von J. Mascis folgt), ist für mich ein Indiz dafür, daß Musiker dann, wenn sie lange genug im Rockbiz sind, und also ihre Bedeutung für die Nachwelt mythologisieren wollen, keinen Platz mehr für ihren weiblichen Kollegen haben. Und sich im Denken und Handeln der Mythen- und Entmystifizierungs-Rocker nicht viel geändert hat.

Kathleen Hannas beherzte Worte für die Freundin, bringen das Elend der Ortlosigkeit der Riot Girls auf den Punkt. Wie die richtige Familie kann auch in der Indie/Boheme-Familie Gewalt ausgeübt werden; die körperliche Gewalt, von der Kathleen Hanna sprechen darf, wird, eher unbeabsichtigt wohl, durch den massiven Ausschluß von Musikerinnen an diesem Projekt symbolisch verdeutlicht.

Nun können kreative Frauen und weibliche Rockfans nicht darauf warten, daß männliche Kollegen und Idole ihnen lebenslänglich Zugang zu ihren Pop- und Independent-Backstageräumen gewähren, sie also demokratisch an der Produktion von Images und Selbstbildern beteiligen.

Jeder weiß schließlich, daß Bilder Macht bedeuten, und gerade im MTV-Zeitalter eine spielerische Auflösung medialer Stereotypen toll wäre. Denn für Frauen ist die Beteiligung an ihrer medialen Verwertung von größter Bedeutung! Neue Entwürfe und Bilder der Frau werden ihnen aber kaum zugestanden.

Gerade die Verknüpfung von Pubertät, Popkultur und Politik, durch die die US-amerikanische Riot-Girl-Bewegung neue Perspektiven ausgelöst hat, wurde in der hiesigen Medien-Rezeption (u.a. Spiegel, Tempo, Viva) häufig wieder aufgelöst und fortschrittslos gewendet. Längst ist nicht mehr von revoltierenden, oder von Traum und Traumen benennenden Mädchen die Rede, sondern von schnuckeligen »Girlies«, die einfach nur ihren Spaß haben wollen.

So deutlich wie lange nicht mehr zeigt sich die Verdichtung von Medienmacht und Männerphantasien. Was lüsterne SWF-3-Moderatoren seit 30 Jahren in ihren zungenschnalzend-abwertenden Reden über »Disco-Miezen« und »Kuschel-Mäuse« angerichtet haben, läßt sich nicht so leicht aus der Schale des Frivolen lösen, geschweige denn an eine Neubesetzung des Girl-Begriffs denken.

 

(KG, SPEX, 1995)