Frau Kraushaar – Bella Utopia!

von Kersty
Da ich die Freude hatte, die Bio für das verdammt brillante neue Album von Frau Kraushaar zu schreiben, möchte ich das gerne hier mit euch teilen.
“Bella Utopia” erscheint am 17.6. bei Staatsakt und hier könnt ihr schon das Video zum Titelsong sehen. In stimmungsvollen Bildern erzählt der dokumentarische Clip vom äußeren Erscheinen des Schönen und vom inneren Wesen des Feuers:
Waren Frau Kraushaars letzte Alben in vielen Sprachen verfasst, das letzte versammelte sogar 11 (!), hat sie für ihre neuen Lieder auf Deutsch verfasst. Weil sie glaubte, ihre Gedanken, auch in schwierigen Zeiten wie diesen, so präziser ausdrücken zu können. Bei ihr klingt das so eigenständig und elegant, dass sogar ein Song mit einem abgewandelten Heinrich Heine-Text Hit-Potential bekommt. Entstanden sind 14 Songs zwischen Kunstlied und extravaganter Tanzelektronik – eine Reise in ein utopisches Land.
Gekonnt spielt sie mit dem Unterschied zwischen melodischen Pop-Strategien und musikalischen Experimenten. Man merkt es schon: Frau Kraushaar ist nicht so einfach greifbar und das ist gut so, denn ihre Herangehensweise kommt eben nicht allein aus der Popwelt.So sammelt sie exotische Musikinstrumente und auch Field Recordings dienen ihr als Hintergrundkulisse für ihre lyrischen Songperlen. Und weil sie, wie ihr großes Vorbild Heinrich Heine, die Natur liebt, können das auch mal Ziegen-Glocken sein.
Daraus lässt sie für den Opener der Platte ein 10-minütiges atmosphärisches Bild einer „idealen“ Naturlandschaften entstehen. Die Tiere sind hier zu Hause. Die Grillen zirpen, ein Käfer fliegt vorbei, es weiden Ziegen, Schafe und Kühe im Sonnenschein. Alle sind da. Schließt man die Augen, kann man sogar die Bewegung der Tiere anhand der Glocken nachzeichnen. „Die Natur ist mein Vorbild, mein Zufluchtsort, mein Ideal. Tiere sind meine Freunde, ich bin voller Bewunderung für ihr Sein“, sagt Frau Kraushaar, die außerdem auch noch Bildende Künstlerin ist und einen Blick für das Schöne, Wahre hat. Eine Möglichkeit eine bessere Welt zu erschaffen, könne sein, das Mensch-Werden (teilweise) zu verlassen und mehr in die Tier-Werdung zu gelangen, sagt sie und meint es im Sinne von Deleuze und Derrida, dass Menschen und Tiere sich in ihren Begegnungen gegenseitig beeinflussen und der Mensch zugleich das viel schlechtere Tier sei.
Aber auch mit Novalis liegt man bei Frau Kraushaar nicht falsch: „Zur Welt suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst.
Entstanden ist „Bella Utopia“ in den letzten fünf Jahren, allein am Keyboard komponiert und in einem langen Prozess bei einem befreundetem Musiker im Studio aufgenommen. Herausgekommen ist ein einzigartiger Sound: unglaublich vielfältig, kurzweilig und überraschend abwechslungsreich. Es ist eine Art Spezialitäten-Kabinett, auch weil klassische Instrumente wie Kontrabass, diverse Gitarren und Geige mit modularen Synthesizern und ausgefallenen Perkussionsinstrumenten (wie zum Beispiel silbernen Salatbestecken), vergesellschaftet wurden.
photo credits by Vera Tammen,

Wenn man jetzt unbedingt Schubladen bräuchte, könnte man es durchaus für New Weird Folk mit klassischer Aufladung halten, aber man läge damit slightly daneben: Das fängt schon damit an, dass Frau Kraushaar nicht die Gitarre, sondern das Keyboard zu ihrem Herzensinstrument und Kompositions-Mittelpunkt auserkoren hat, und dabei meistens im Bezugssystem von klassischer Musik, Kunst und Dichtung bleibt. Frau Kraushaars hingebungsvolle Vorgehensweise schafft berührende Songs. Kopf und Herz sind hier keine Widersprüche: In „Din Norm 476“ besingt sie eine Postkarte. Einen Flohmarktfund, wo eine Frau ihre Liebsten zu Hause vermisst. Es knistert, es rauscht und leiert wie aus einem alten Radio, ganz nebenbei entsteht ein kraushaarscher Sound, der uns melancholisch einstimmt und uns zugleich der kleinen feinen Dinge des Lebens zu erfreuen vermag. Darüber hinaus ist die eigenwillige Sängerin aber auch eine gern gesehene Bohemienne im Hamburger Pudel Klub und HfbK-Umfeld. Zeigt regelmäßig kleine Ausstellungen in der Galerie Landschaft oder widmet sich performativ künstlerischen Themen in mehr oder weniger etablierten Ausstellungsräumen ihrer Wahlheimatstadt.

 

Da passt es gut, dass die Musikerin sich nach zahlreichen internationalen Auftritten, Theaterprojekten und Performances, dem großen Thema Utopie nicht von der Gegenwart, sondern von der Geschichte her nähert. Denn das Reden über Utopie in Zeiten von Krieg, Endlospandemie und Kontaktbeschränkung bekommt so eine neue Dringlichkeit. „Bella Utopia“ ist aber nicht nur eine „schöne“ Welt, in der alles glatt läuft, auch wenn es, frei nach Voltaire/ Candite („Es ist die beste aller Welten“), erst mal so wirkt.

Das passt zu einer Musikerin, die immer Kunstfigur und authentische Person, Rezipierende und Fühlende zugleich ist, nur eins nie: langweilig. Und macht dieses Album zugleich zur schönsten Utopia diesen Jahres. Gebongt!