Hypomanic Mittwoch pt. 21 – Lebenshunger (übermäßig)

von Kersty

HYPOMANIC MITTWOCH (am Freitag)

“There are problems in these times, but none of them are mine“

(The Velvet Underground, „Beginning to see the light“)

Da gestern unser Salon „Krawalle & Liebe“ stattfand, und ich mich vorgestern, also am Mittwoch, darauf vorbereitet habe, schreibe ich mal wieder eine „Manic Mittwoch“-Kolumne an einem Freitag. Am Tag nach einem Salon ist man sowieso auf eine viel angenehmere Art aufgedreht, als am Tag selber. Vielleicht sollte die Kolumne also besser „Hypomanic Mittwoch“ statt „Manic Mittwoch“ heißen, benannt also nach einer leichteren Form von Manie, einer beinahe nur leicht überdrehten Fröhlichkeit, also einer fröhlicheren Fröhlichkeit. Wäre sowieso der bessere Kolumnentitel. Und was will ich jetzt erzählen? Literarische Kolumnen sind ja sowieso völlig überflüssig und ich schreibe diese nur, weil ich überflüssige Dinge liebe. Und wenn ich jetzt die letzten drei Jahre keine Kolumne, die von praktisch nichts handelt, geschrieben hätte. Wäre dann irgendwas gewonnen? Natürlich nicht. Letztes Jahr, während der Pandemie, vor der Impfung noch, habe ich Gedichte und kleine Abhandlungen über den Alltag während Corona geschrieben. Die haben aber nie den Weg auf diesen Blog gefunden. Warum weiß ich nicht. Immerhin wäre „Achtsamkeit und Alltag“ ja genau dafür da. Sie sind in einer Mappe abgeheftet und ich hab sogar ein Stipendium dafür bekommen. Das ist lustig, megalustig, weil ich für meine wirklich großen literarischen Sachen nie Stipendien bekommen hab. Ich will nicht undankbar sein, aber wahrscheinlich kriegt man nur Geld für Literarisches von Gremien des Staats, wenn man die Sache eine Spur kleiner anlegt. Also erzähl bloß keinem, dass du mit einem Roman die Welt verändern willst  oder sowas in der Art. Das hört man nicht gerne. Das ist dann auch keine Literatur mehr, sondern unlauteres Zeugs, das sich der Literatur quasi in den Weg stellt. Literatur darf ja in Deutschland nicht davon handeln, etwas zu verändern, sondern es soll sich immer schön selbstreferentiell um Stilfragen drehen. Das ist mir natürlich niemals gelungen – nur Ästhetik, gar nicht Inhalt – als es den neuen Feminismus noch nicht gab. Irgendwer musste den ja auch mal anschubsen. Aber jetzt natürlich, wo alle so toll politisch sind, möchte man wieder die alte Velvet Underground-Nummer rausholen, die Rede von „There are problems in these times, but none of them are mine“ aus „Beginning to see the light.“

Das wäre natürlich noch schlimmer als alles Politische, nein, im Moment muss man politisch sein. Was geht mich euer Sexismus an? Was geht mich euer Krieg an? Was kümmert mich die Umwelt, der Rassismus, die soziale Ungerechtigkeit, der Abtreibungsparagraph in den USA, der Rechtspopulismus? Ich bin jetzt mal spielen, mit meinen inneren Anteilen oder so.  Macht eure bessere Welt doch einfach ohne mich. Oder noch besser, wie damals Haysi Fantayzee nebenbei der BRAVO erzählten: „Wir wollen, dass die Atombombe fällt!“ Ich hab das dann auch gesagt, am Abendbrot-Tisch, zu meinen Eltern, als ich sieben Jahre alt war.  Ich wusste nicht, was eine Atombombe ist, fand aber, das Wort habe einen schönen Klang.  Mein Vater hat gelacht. Er kommt ja aus einer französischen Familie. Es war Humor in seinem Sinne. Er sagt oft satirische Sätze in vollem Ernst und ohne sie wieder aufzulösen. Das finde ich auch heute noch erstaunlich, wenn ich mit ihm rede, weil ich manchmal denke, dass die deutschen Männer in seiner Generation so einen Humor nicht hatten. Jedenfalls hat sich keiner über mich aufgeregt, als ich mit sieben Jahren am Abendbrot-Tisch verkündet habe: ich will, dass die Atombombe fällt. Aber die Welt da draußen ist natürlich nicht eine französisch-deutsche Familie mit schizophrenen Zügen, sondern etwas Faschistischeres, und deshalb würde ich es so jetzt nicht mehr sagen, schon gar nicht in einer Stipendiumsbeschreibung. Man muss immer das richtige Maß für alles finden, wenn man Geld verdienen will. Deshalb bin ich so froh über unseren Salon im Brecht-Haus. Weil das richtige Maß dort mein eigenes, inneres, gefühltes, hypomanisches, hypergraphisches, ungermanisches richtiges Maß ist. Forever leben, für immer schreiben: Das spielerische Kind, es lacht in mir, weil Schreiben sich für das spielerische Kind nicht wie Arbeit anfühlt.

Letztes Jahr, am 26.05. 2021 hatte ich folgenden Eintrag in meiner literarischen Corona-Jukebox:

SCHLAFEN IST INDIVIDUELLE ANARCHIE

Jetzt kommen wir zu Nancy Sinatra und ihrem Song „Zeit“

Some people run,

Some people crawl

Some people don`t even move at all

 

„In zehn Jahren werden sie nicht mehr so aussehen wie jetzt!“

„Warum nicht? Das denke ich gar nicht. Ich sehe doch immer noch so aus wie vor zehn Jahren. Warum sollte das in zehn Jahren anders sein?“

Some people never get

Some never give

Some people never die

But some never live

„Sie wissen aber schon, dass es einen Alterungsprozess gibt? Sie sind doch so eine intelligente Frau, Sie denken doch nicht, dass Sie niemals altern?“

„Doch, ehrlich, ehrlich, das denke ich. Also nein, ganz so denke ich es natürlich nicht. Nur dass er vielleicht erst mit 80 Jahren oder so stattfindet. Sie wissen doch, mein Vorbild ist meine französische Urgroßmutter, die fürs Frauenwahlrecht in Deutschland gekämpft hat (weil irgendwer musste es ja tun.) Sie wurde ja 96 Jahre alt. Die ist auch ein 86er Jahrgang, so wie Sie, nur 1886.“

„Frau Grether, ich möchte ihnen wirklich gerne helfen, aber ich kann leider nicht zaubern. Es ist leider nicht die Realität, dass Menschen nicht altern.“

„Meine schon.“

„Und die Psychologie hat da leider auch keine besonders tollen Antworten auf diesen Prozess…“

„..der jedem Menschen bei lebendigem Leib gemacht wird, ich weiß.“

„Wir sind ja keine Religion. Wir sind ja Psychologen.“

„Aber immerhin die Einzige, an die ich glaube, auch wenn ich gerade nicht mag, was ich höre. Ich bin der Psychologie da nicht nachtragend.”

„Aber warum?“

„Ich habe mir da viel vorgenommen.”

„Viel zu viel. Sie haben doch auch hier diese Angst vor dem Kontrollverlust. Sie denken, ähnlich wie in Bezug auf Krankheiten: wenn ich alles richtig mache, wenn ich alles ganz gut mache, dann werde ich nie krank und dann werde ich niemals altern. Und wenn doch, dann geben sie sich selbst die Schuld dafür. Aber sie geben sich die Schuld für etwas, für das sie nichts können. Sie sind nicht Schuld daran, wenn sie altern oder krank werden. Warum macht ihnen das mehr Horror, als den meisten anderen? Ist es die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit? Das ist doch auch ein großes Thema. Das betrifft uns alle.“

„Ich war noch nicht auf den großen Bühnen.“

„Ja, aber das ist es nicht. Sie haben doch trotzdem genug, sie haben schon so viel gelebt.“

„Es reicht noch lange nicht.“

„Da sehen sie: sie haben diesen besonderen Lebenshunger, einen total tollen, tiefen, ausgeprägten Lebenshunger.“

„Ja, ich finde das Leben einfach toll, ich will das nicht aufgeben, einfach nie.“

„Brauchen sie dafür die große Bühne? Klar, die ist schön. Aber brauchen sie die?“

„Wenn ich alleine am Klavier sitze mit einer Tasse Kaffee und ein Lied spiele, dann bin ich glücklich, glücklicher kann ich gar nicht sein. Ich könnte kaum glücklicher sein, auf der großen Bühne.“

„Jetzt weinen sie, und jetzt haben sie mich auch zum Weinen gebracht, weil wir jetzt beide ihren Lebenshunger spüren.“

„Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass das biologisch von Mensch zu Mensch anders ist. Man altert ja nicht automatisch, nur weil man jedes Jahr ein Jahr älter wird.“

„Ja, sie können darauf Einfluss nehmen, durch Ernährung, ausreichend Schlaf, Bewegung, Sonneneinstrahlung vermeiden usw. Aber sie können es nicht verhindern, generell, im Großen und Ganzen, dann findet es bei ihnen eben später statt, aber irgendwann.“

„Aber meine französische Urgroßmutter?“

The world will always welcome Lovers

No matter what the times bring

ENDE DES EINTRAGS VOM 26. 5. 2021

Immerhin führt diese ganze angeblich so tiefe Lebensfreude dazu, dass ich vor Auftritten praktisch nie aufgeregt bin. Das klingt jetzt komisch, weil man ja denken würde, dass sich die Aufgeregtheit vor einer Bühnensituation noch steigert. Aber bei mir ist es umgekehrt:

Es war aber ganz lieb als Theresa gestern vor dem Auftritt meinte, sie sei jetzt schon genauso aufgeregt wie ich und ich dann so: „Du bist an meiner Stelle aufgeregt, weil ich nämlich gar nicht aufgeregt bin.“

Ich reg mich immer nur auf, wenn ich nicht auf die Bühne darf!

Auf die Bühne zu dürfen, beruhigt mich augenblicklich. Denn es führt ja dazu, dass sich die „zu viel“- Stimmung endlich aufführen und loswerden darf. Das gilt auch für die Organisation einer Veranstaltung. Nie bin ich so ruhig und gelassen, wie wenn um mich herum alles wirbelt. Dies sich unentwegt steigernde, an allen Ecken und Enden aufploppende Chaos, ist Balsam für meine Nerven. Schön, dass die anderen mal so drauf sind wie ich immer. Ist gut, ich regulier mich sofort runter – allein mit der Kraft meines Willens, ganz ohne Drogen, Alkohol or whatever.  Meine körpereigenen Drogen spielen Fangen. Bei keiner der 60 Veranstaltungen, die ich in den letzten 5 Jahren organisiert habe, gab es auch nur einen langanhaltenden Streit, oder das geringste Problem, alles konnte sofort an Ort und Stelle besprochen und gelöst werden. Nix Schlimmes, das geblieben wäre. Keine Vorkommnisse, keine Shitstorms, nix.

Die Bühne ist und bleibt, was sie immer war: das perfekte Gegenmittel für schimpfende und schreiende und singende und tobende Schulhof-Mobbingopfer.

Ein Wunder.

Und gestern hab ich sogar im „Alnatura“, gegenüber vom Brecht-Haus einen neuen Drink entdeckt: „Chari Tea – Mate ginger,  sugar free.“

Mit 14 stand ich zum ersten Mal auf einer Bühne: schon damals spürte ich diese riesige Ruhe und Gelassenheit, in dem Moment, wo die Magie begann zu wirken. Es war vor dem Konzert einer britischen Indie-Band, in einem Mannheimer Club, ich werde es nie vergessen, weil es so toll war. Ich wollte eigentlich nur einen Satz sagen, nur den Leuten erzählen, dass ich ein Fanzine mache, das sie am Eingang kaufen können, aber dann hat mich der Mut gepackt etwas über das Fanzine zu erzählen, und das Publikum war so nett und supportive, und ich sprachlos, auch wenn ich so viel geredet habe, so tief im Inneren beglückt, dass ich auch geliebt werde, wenn man mich von allen Seiten und immer wieder anders sieht, das war wie eine Befreiung oder eine Erleuchtung.

Darüber, was es eigentlich bedeutet, für den Einzelnen, wenn es für jede nur denkbare menschliche Verhaltensweise einen psychologischen Fachbegriff gibt, schreibe ich nächste Woche. Kleiner Ausblick auf meine derzeit „liebste“ Störung:

Hypergraphie (griech. hyper = viel, über und graphein = schreiben) ist die medizinisch-psychologische Bezeichnung des krankhaften Schreibzwangs.

Die Hypergraphie ist eine affektive Störung und kann als Symptom bei einer Reihe diverser Geistesstörungen  vorkommen (hauptsächlich in Verbindung mit enormer kreativer Produktivität) und äußert sich in einer manischen, zwanghaften Schreibwut, wobei alle Flächen, auch Wände und Gegenstände, als potentielle Schreibflächen und Schreibaufforderung gesehen werden.

Aber wir leben eben in der Moderne und Postmoderne und die Aufklärung ist Schuld, auch am Erkenntnis und Bezeichungswahn. Religiös ist das nicht. Hat alles seinen Ursprung in etwas Irdischem. Ich bin nur froh, dass ich noch nichts über „Hypergraphie“ wusste, als ich damals auf der besagten Mannheimer Bühne so freudig erzählt habe, dass es mich und mein Fanzine (mit den Hunderttausenden von Zeichen) gibt.

Bisweilen freue ich mich einfach über den neuen Drink aus dem „alnatura“.

Dass es „Mate“ im Glas ohne Zucker – und auch ohne Süßstoffe! – gibt!  Was für eine Rettung. Und schmeckt fantastisch. So gut, dass man beinahe das Chaos aufploppend verkünden möchte: „There are problems in these times, but none of them are mine.“