Manic Mittwoch, pt. 7 – Oh Tannenbaum, eine kleine gewöhnliche Weihnachtsgeschichte

von Kerstin

Ich glaub, ich schreib mal wieder eine Manic-Mittwoch-Kolumne, einfach weil ich schon lange keine mehr geschrieben hab, und weil diese Kolumne sich so herrlich dafür eignet, alle anderen Sachen, die tatsächlich gemacht werden müssen, einfach links liegen zu lassen. Außerdem ist das ja eine Kolumne, die von ganz alltäglichen Missgeschicken handelt (handeln nicht alle Kolumnen, die nicht ausgesprochen politisch sind, von ganz alltäglichen Missgeschicken und ihren Lösungsversuchen?) und tatsächlich ist in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in der vergangenen Woche (wir erinnern uns: es war Weihnachten, Heilig Abend)! mir ein solches Missgeschick passiert – über das ich hier noch ein bisschen rumjammern will, weil Jammern ja ansonsten nicht mein Ding ist (das überlasse ich sonst lieber den notorisch toxischen oder übel-launigen Personen, die sich immer selber zum Opfer erklären, damit man ihnen nie einen Vorwurf machen kann). Aber um sowas Krasses geht es hier ja gar nicht, sondern darum, wie viel kann man schreiben, ohne etwas zu sagen? Hauptsache MANISCH SEIN, dabei.

Sehr viel natürlich, naturgemäß, aber letzten Mittwoch, doch, es war schon Mittwoch, zwei Uhr nachts, zwei Stunden nach dem Tag, wo Heilig Abend war, ich wollte gerade ins Bett gehen, da schaut mir ein Freund in die Augen, und sagt:“ Scheiße, deine Augen bluten.“ Oh Gott, hab ich einen Schreck gekriegt, er sagte das so ganz nüchtern – und nüchtern war ich ja auch, am Komasaufen kann es also nicht gelegen haben. Auch hatte ich keinen Schmerz oder sonst irgendein Übelkeitsgefühl, keinerlei Sehtrübungen, aber ja, ich sah ihn jetzt auch, als ich mich überwinden und endlich im leichten Schockzustand schon, in den Spiegel in meinem Wohnzimmer gucken konnte: oberhalb meines linken Auges hat sich ein großer Blutfleck breit gemacht. Krass, wie kann sowas sein, wenn man gar nichts spürt oder hat? Wir beratschlagten hin und her. Oh nee, jetzt bitte nicht in die Notaufnahme eines Krankenhauses, oh nee, nicht an Heilig Abend Früh, wie schrecklich, die Vorstellung, da zu sitzen, unter all den Besoffenen, denen der Weihnachtsbaum ins Gesicht gefallen ist, sagte ich: da fiel es mir plötzlich ein, war mir nicht heute Nachmittag beim Joggen im Park ein Ast, ein Tannenzweig ins Auge gefahren? Ich erinnerte mich an einen kurzen, stechenden Schmerz, den ich danach sofort verdrängt hatte. Das muss es wohl gewesen sein, sagte ich, fast erleichtert, dass mir eine Erklärung für das seltsame Phänomen eingefallen war: ich hab ausgerechnnet am Nachmittag des 24. Dezember von einem Tannenast eine gelangt bekommen, und das, wo ich doch so oft im Park bin, und da ist es mir noch nie passiert.

Kann es sein, dass die Tannenbäume an Weihnachten besonders zutraulich sind, oder liegt es daran, dass ich mal wieder zu spät dran war und vergessen hatte, noch eine Weihnachtstanne zu kaufen, wenigstens einen von den kreisrunden Zweigen, die es bei uns im Blumenladen um die Ecke für 3 Euro gibt? Oder wollte ich mich, indem ich mich ganz nah an den Zweig schmiegte, vielleicht daran erinnern, dass ich doch eigentlich an dem Nachmittag, bevor die Geschäfte um zwei zu machen, noch einen solchen schönen, runden Zweig hatte kaufen wollen? Nun hatte er mich beim Joggen gestreift, ein ganz gewöhnlicher Tannenbaumzweig, kein der Natur entfremdeter, gefällter Baum, und die Frage, ob so ein rotes Auge eigentlich schlimm ist, stand weiter im Raum. Der Freund googelte: kleiner roter Fleck im Auge, und siehe da: Google gab Entwarnung! In den allermeisten Fällen sei das nur ein geplatztes Äderchen und das würde von selber wieder heilen und man müsse gar nichts machen, nur abwarten, und die meisten Menschen würden von so etwas einfach nur einen Schock erleiden, weil es so gruselig aussieht.

Von diesem Moment an, wurde ich nur noch „der kleine Vampir“ genannt. Der kleine Vampir zitterte ein wenig vor Schreck. Der Blut-Punkt im Auge war aber auch zu gruselig! Ich konnte aber trotz Google-Entwarnung nicht schlafen, dafür bin ich viel zu hypochondrisch, und wer glaubt schon diesem Internet? Wieso konnte so ein Missgeschick nicht wenigstens mal an einem Dienstagmorgen passieren, wenn man normal zum Arzt gehen kann. Wir beschlossen, den ärztlichen Bereitschaftsdienst anzurufen. Der ist ja genau für solche Fälle: wenn einen an Weihnachten, wo kein Augenarzt offen hat, ein Zweig ins Auge fällt. Peinlich, peinlich, aber auch dafür gedacht, dass Leute noch einen dritten Weg gehen können, in solchen Situationen: zwischen gleich die Feuerwehr rufen oder sich mit schlechtem Gefühl ins Bett legen und eine schlaflose Nacht verbringen oder sechs Stunden in der Notaufnahme sitzen und den schweren Fällen die Ärzte wegnehmen.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine aufgeweckte Frauenstimme, die zwar der Meinung war, dass das durchaus ein Fall sei, wo der ärztliche Bereitschaftsdienst die richtige Lösung sei, zumal, wenn weder Schmerzen noch Sehtrübungen im Spiel seien, was schonmal gut ist, wie die Dame versicherte; also bestimmt sei das nichts Schlimmes, aber ob der Arzt das überhaupt erkennen könne? Sie gab zu bedenken, dass das ja kein Augenarzt wäre, der, den sie jetzt vorbei schicken würde. Ob wir nicht lieber in die Augenklinik nach Wedding fahren wollen? Na, klar, total gerne, total gerne zahle ich 30 Euro Taxi um Nachts um zwei, an Weihnachten, wenn alles schläft oder freundlich wacht, und wenn ich eigentlich total müde bin und endlich ins Bett will, wegen Nichts und Wiedernichts eine Augenklinik aufzusuchen. „Bitte schicken sie den äztlichen Bereitschaftsdienst vorbei“, sagte ich schließlich, er wird schon irgendetwas feststellen und dann kann man ja weiter sehen“ – mit Betonung auf „Sehen“ natürlich 😉 .

Sie willigte ein, gab allerdings zu bedenken, dass es gut möglich sei, dass der Arzt erst morgens um 6 oder 7 Uhr vorbeikommen würde und triggerte meine Angst, dass dann vielleicht schon was passiert sein könnte. „Egal“, sagte ich, „Hauptsache irgendjemand schaut sich das Auge heute Nacht noch an.“ Die Frau am Telefon hatte mich mürbe gemacht, mit ihren tausend Einwänden. Beinahe wäre ich noch im Sitzen eingeschlafen. Ich beschloss, mich absolut nicht reinzusteigern und einfach zu schlafen. Zur Beruhigung unterbrach ich sogar mein Intervallfasten und aß noch ein paar Rippchen Zartbitterlieblingsschokolade. Als ich gerade das Licht löschen wollte, klingelte es auch schon an der Tür! Was ist Deutschland nur für ein gutes Land, dachte ich, da kommt jetzt echt ein Arzt mitten in der Nacht, um sich mein Auge anzuschauen. Mir fiel wieder die feministische Statistik ein, wonach Frauen in punkto Gesundheitsfürsorge in Deutschland unter den ersten 5 Ländern waren, und in punkto Berufschancen auf Platz 45. Wie gut, dass ich mich doch tatsächlich auf dieses Gesundsheitssystem im Notfall verlassen kann, dachte ich. Und sogar, wenn`s kein Notfall ist.

Ich öffnete die Tür. Ein mittelalter, netter Arzt mit einem vertrauensvollen weißen Bart spazierte in meine Wohnung und nahm die Lage ernst. Er stellte sich als wunderbar kompetent heraus, von wegen: so was kann er nicht beurteilen! Er war Sportarzt, und auch für Naturheilkundeverfahren geeignet. So stand es auf seiner Visitenkarte. Und das passte ja nun wirklich hervorragend zu meinem Fall. Genaugenommen war es ja eine Sportverletzung, ich hatte sie mir ja beim Joggen zugezogen. Er checkte das Auge, leuchtete einmal rein, und sagte: nichts Schlimmes, alles ganz harmlos, kann schon mal passieren, dass ein Äderchen platzt. Sieht schlimmer aus als es ist. Und sollte das Blut in vier Tagen nicht von alleine verschwunden sein, könnte ich mir ja ein paar Augentropfen für gereizte Augen aus der Apotheke holen. Auch dann sei es nicht schlimm. Er schrieb das Rezept und verabschiedete sich. Ich entschuldigte mich ein bisschen für den Fehlalarm, total erleichtert natürlich. Er sagte, das sei okay, dafür sei er doch da, und besser den ärztlichen Bereitschaftsdienst rufen, wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob etwas harmlos ist oder nicht, als 6 Stunden in der Notaufnahme und sich dort mit Magen/Darm-Bakterien anstecken oder so. Ein kluger Mann. Ich wünschte ihm ein frohes Weihnachten und schenkte ihm einen Schokonikolaus und eine Schokoeule. Er nahm das sogar an und bedankte sich und verabschiedete sich: ebenfalls ein frohes Fest wünschend. Ich fühlte mich plötzlich wieder wie ein Kind, das den Weihachtsmann höchstpersönlich getroffen hat, so glücklich war ich, dass alles gut war, und sang noch einmal mein Lieblingsweihnachtslied, im Kreise meiner Lieben: „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter? Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit.“O Tannenbaum, o Tannenbaum“… und zum ersten Mal konnte ich ahnen, was die dritte Strophe bedeutet:

Dein Kleid will mich was lehren:
Die Hoffnung und Beständigkeit
gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit,
o Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mich was lehren

 

So begann ein weiterer manischer Mittwoch, nur dass ich ein probates Mittel gefunden hatte, um die Manie zu beenden: einfach den Arzt rufen! Oder mit Sleater Kinney gesagt: „Call the Doctor!