Film: “Berlin 4 Lovers” – 10 Fragen an Regisseurin Leonie Loretta Scholl

Ganz Berlin (alb-)träumt von der Tinder-Liebe!

Interview mit Leonie Loretta Scholl

von Sandra und Kerstin

“Ich wollte mal was anderes zeigen als nur die Berliner S-Bahn!”

1 Dein Film beginnt schon sehr aufregend – und passend zum Thema “Tinder” und “Dating in Berlin” – mit diesen Bildern von der Stadt von oben. Und symbolisiert für uns so eine Michung aus Austauschbarkeit und Freiheit und Spiel. Die Autos sehen aus wie Spielzeugautos, das geht über in die erste Szene, in der eine der Interviewten im Auto durch die Stadt fährt. Schöne Farben auch! Wie bist du auf die Idee gekommen, Berlin mit dem Thema „Tinder“ zu verknüpfen? Es ist verblüffend was für ein modernes Porträt der Stadt und ihrer Menschen herauskommt, bis das Thema etwas Größeres geworden ist, als „nur“ Tinder und Berlin.

Leonie Loretta Scholl: Vielen Dank für die sehr schöne Zusammenfassung! Bei den Anfangsbildern fand ich diese Draufsicht super, weil sie so einen Modelleisenbahncharakter erzeugt. Und ein Gewühl abbildet, in dem dann aber doch eigentlich alles recht geordnet abläuft. Und klar, Autos, der Freiheitsgedanke – wahrscheinlich nicht unbedingt das erste Fortbewegungsmittel, das man mit Berlin assoziiert, aber ich wollte mal was anderes zeigen als nur die Berliner S-Bahn. Zum Thema: Als wir angefangen haben, die Interviews zu führen, war noch gar nicht richtig klar, worum es letztendlich genau gehen soll. Ich wusste nur, dass ich wahnsinnig viele interessante Leute in dieser Stadt kenne und die porträtieren wollte. Mein befreundeter Fotograf, Pedro Neves, war zu der Zeit gerade total vom Berliner Datingleben gefrustet. Ich wollte die ganze Zeit einen Film drehen und hab nur auf den Anstoß gewartet. Und der kam dann, als wir über den kleinsten gemeinsamen Nenner vieler Menschen in dieser Stadt sprachen: Tinder.

2 Erzähl doch mal was über die Enstehungsweise des Film. Zum Beispiel wie hast die Leute kennengelernt, die über ihre Tinder-Erfahrungen sprechen und wie hast du sie dazu gebracht, so offen und ehrlich über sich und ihre Gefühlswelt zu sprechen – über Tinder? 😉

Das sind fast alles Freundinnen und Freunde von mir und auch tatsächlich viele ehemalige Tinder-Dates. Ich glaube, mit meinen Ex-Dates zu sprechen war der kathartischste Aspekt des ganzen Projekts. Ich bin so froh, dass sich diese Menschen mir gegenüber geöffnet haben. Das fiel natürlich nicht allen leicht, manche hatten auch einfach kein intrinsisches Bedürfnis, über dieses Thema zu sprechen. Die habe ich dann letztendlich auch nicht in die Endfassung des Films gewählt. Alles in allem bin ich aber immer noch überwältigt, so offene, reflektierte und spannende Protagonist*innen für den Film gefunden zu haben.

3 Lustig ist, dass eigentlich alle die Austauschbarkeit des Systems „Tinder“ und „Dating-Börse“ beklagen und das zur Ware-Werden der Personen; es ist ein bisschen so als wäre Berlin die Message und Tinder das Medium, als wäre Tinder der Ausdruck des Lebensgefühls Berlins. Eine Metapher dafür aber auch, wie Leute heute generell auf Partner*innensuche sind, egal in welchen Städten: für die Austauchbarkeit, Wahlfreiheit es Individuums. Warst du selber überrascht, dass bei aller Verschiedenheit der Protagonist*innen und ihrer Lebensumstände, doch oft die Einstellung zu Tinder eine ähnliche ist?

Ja, man könnte fast denken, die Einstellung vieler Menschen zum Dating ist ein bisschen schizophren. Auf der einen Seite will man die uneingeschränkte Aufmerksamkeit dieser einen Person, auf der anderen Seite graut es einen davor, sich festzulegen. Ich glaube der Hauptgrund ist wie bei so vielen Dingen Angst. Die Angst vor Entscheidungen und natürlich, noch viel wichtiger, Angst vor Verletzungen. Wenn man schon verletzt wird – und das wird man bei ernsthaftem Daten früher oder später – dann doch von einer Person, die es „wert“ ist 😉 Aber oft stimmt auch einfach die Chemie nicht, das muss man halt fairerweise auch dazu sagen.

4 Der Film beginnt damit, dass die Protagonistin Karo sich fragt, was Männer überhaupt von Frauen* erwarten und die zu dem Schluss kommt, für Männer weniger attraktiv zu sein, wenn sie glücklich ist mit ihrem Beruf. Während der darauffolgende Protagonist Benjamin eigentlich die totale Bestätigung ihrer Aussagen ist, weil er es lieber „locker“ angehen lässt und gar nicht unbedingt auf Partner*innensuche ist. Allerdings sagt er, dass es Menschen interessanter macht, wenn sie wissen, was sie im Leben wollen und happy sind. Ist es vorstellbar, dass genau derselbe „Typus“, der sowas sagt, dann aber bei einer Frau, die genau weiß, was sie will und unabhängig ist und tolle Sachen macht, sich dann doch wieder klein fühlt und sie nicht als Partnerin in Erwägung zieht. Oder hat die Protagonistin da etwas „falsch“ beobachtet?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich kenne ja beide Protagonist*innen persönlich und spreche mit ihnen auch abseits vom Film über diese Themen. Und es ist interessant, denn je besser es mir geht und je zufriedener ich mit meinem Leben bin, desto mehr kann ich Benjamins Einstellung nachvollziehen. Vielleicht sogar den Gedanken, sich von dem klassischen Beziehungsmodell mit all den daran geknüpften Erwartungen zu verabschieden. Aber natürlich ändert sich diese Ansicht auch bei mir jedesmal, wenn ich verliebt bin. Leider habe ich ebenfalls ein Faible für Narzissten, denen ist eine selbstbestimmte Partnerin einfach ein Dorn im Auge, da können sie noch so feministisch tun. Aber hier der beliebte Satz: Nicht alle Männer sind so! Zum Glück hat ja jede*r selbst in der Hand, sich eine*n Partner*in zu suchen, der einem auch gut tut. Das kann ich auch allen Leuten immer nur raten und sich schnellstmöglich aus toxischen Beziehungen zu lösen.

5 Das Spannende an deinem Film ist, dass du vor allem Leute fragst, die sowieso schon das größtmögliche Freiheitspotential leben, sie sind oft aus anderen Ländern nach Berlin gezogen (z.B. aus Brasilien, Dänemark, Rumänien) und sind in kreativen Bereichen tätig. Also genau keine Menschen, die sich schnell festlegen und mit dem „Erstbesten“ zufrieden geben. Macht das denReiz des Filmes aus, dass immer wieder diese Crux des „Wer die Wahl hat, hat die Qual“ beschrieben wird? Der Film legt gewissermaßen eine Hand auf dieWunder unserer Zeit. Oder glaubst du, dass es in anderen Milieus und z.B. in deutschen Kleinstädten ähnlich schwierig ist?

Das wäre wirklich interessant, das Ganze mal in anderen Umgebungen zu untersuchen. Berlin ist da auch sicher ein Spezialfall, der die Optimierung und Individualisierung unserer Zeit auf die Spitze treibt. Natürlich kommen da viele „Klischees“ zur Sprache, aber genau das wollte ich mit dem Film ja auch darstellen. Was ich spannend finde, ist, dass obwohl die Protagonist*innen alle aus relativ ähnlichem sozialen Milieu und „kreativen“ Umfeld kommen, sie doch durchaus sehr unterschiedliche Ansichten haben.

“Gefühle sind eh das letzte interessante Thema dieser Zeit. “

6 Du hast auf FB manchmal schon von eigenen Tinder-Erfahrungen gepostet. Inwiefern stimmen die mit den von den Befragten überein? Was das ein Antrieb für dich diesen Film zu drehen, also eventuell auch Negativ- Erfahrungen?

Ich glaube, wenn ich was poste dann eher aus einem satirischen Blickwinkel. Ich hab’s eine Weile auch echt übertrieben mit dem Daten und ein paar Leute nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten. Mir ist es mittlerweile total wichtig, immer wieder zu hinterfragen: Warum date ich jetzt jemanden? Bin ich einsam, ist mir langweilig, brauche ich jemanden zum Reden, hätte ich gerne Sex oder emotionalen Komfort? Klar, gibt das immer einen Adrenalinkick, jemand neuen kennenzulernen. Aber man muss eben auch bedenken, dass nicht jeder total easy mit Sex und Gefühlen umgeht. Um ehrlich zu sein glaube ich, dass das überhaupt niemand tut. Und aus dem Grund ist mir wichtig, mit so einer Art Achtsamkeit“ ans Daten zu gehen. Und eben nicht zu konsumieren, sondern sich das bewusst zu machen: Da ist ein Mensch, der genauso viele Ängste und Verletzungen wie du in sich trägt. Gefühle sind eh das letzte interessante Thema dieser Zeit.

7 Der Film besticht durch lange Sequenzen der einzelnen Protagonist*innen. Fast so als wolltest du eine Gegenzeitspanne zum schnellen Wegdrücken bei Tinder schaffen, oder auch so, als wolltest du, dass man die Leute richtig gut kennenlernt. Beim Zuschauen erzeugt das, obwohl alles total interessant ist was sie sagen und obwohl auch der Wohnungsbackground voll schön aufbereitet ist, ein Gefühl von Ungeduld. Man will schnell jemand anders sehen. Ist das Absicht? Dass du durch diese ästhethischen Mittel das Tinder-Gefühl erzeugt hast?

Haha ja, noch so ein Symptom des 21.Jhds:  Die kurze Aufmerksamkeitsspanne! Es ist lustig, wenn man Filme aus den letzten Jahrzehnten ansieht, wie langsam da alles abläuft. Ehrlicherweise war das keine bewusste Entscheidung, aber im Nachhinein würde ich es schon so analysieren, dass man sich dadurch auf die Personen einlassen muss. Auch wenn das vielleicht nicht das Angenehmste ist, was man da zu hören bekommt. Vielleicht ist es auch ein bisschen sadistisch: Du hörst dir die Geschichte jetzt zu Ende an und holst dir nicht sofort wieder die nächste Ablenkung und den nächsten Kick. Dafür liebe ich aber auch das Genre Dokumentarfilm so sehr.

8 Die Musikauswahl ist auch sehr passend, natürlich freuen wir uns, dass auch ein Song von unserer Band Doctorella dabei ist, im Abspann läuft „Gehst du heut mit mir ins Kino?“ Und apropos: Wie hast du es geschafft, dass dein Film im Kino läuft? Erzähl doch mal ein bisschen über die Reaktionen und wie alles so abgelaufen und gelaufen ist? Das stellen wir uns verdammt schwer vor, einen Film in die Kinos zu kriegen.

Auf den Soundtrack bin ich besonders stolz, vor allem weil es alles Berliner Freund*innen von mir sind! Und jedes Mal fragt mich jemand, wer denn dieser Künstler oder jene Band ist. So hab ich auch schon Doctorella zu Zürcher Freunden ins Wohnzimmer gebracht, die sofort Fan wurden 🙂 Das Kino hab ich in diesem Fall selbst angefragt, da die erste Vorführung im Tilsiter ausverkauft war, waren sie offen dafür und haben mir sogar einen tollen Q&A-Termin organisiert. Mittlerweile habe ich auch einen Verleih gefunden, der sich um all diese Dinge in Zukunft kümmern wird. Denn das ist wirklich riesig viel Arbeit, die man gar nicht alleine bewältigen kann.

9 Wie lange hast du an dem Film gearbeitet? Was war dir wichtig dabei? Und wie war die Aufgabenteilung unter den Leuten, mit denen du zusammengearbeitet hast?

Insgesamt etwa anderthalb Jahre. Wir haben im Spätsommer 2017 zu zweit angefangen zu drehen, nach einem halben Jahr schied Pedro leider aus persönlichen Gründen aus. Ab dann habe ich den Rest mehr oder weniger im Alleingang bewältigt, also Kamera, Interviews führen und organisieren, Schnitt, Postproduktion, alles. Aber ich habe an allen Ecken super Support von meinen fantastischen Freund*innen und Bekannten bekommen, die mich beraten und geholfen haben, auch und gerade in solchen Fragen wie: Was macht man jetzt eigentlich mit einem fertigen Film? Ich bin halt auch sehr naiv an die Sache rangegangen. Es gab 0€ Budget und keinen richtigen Plan, das würde ich nie wieder so machen.

10 Planst du weitere Filme? Oder Aufführungen in anderen Städten? Was hälst du davon, den Film mal bei einer Veranstaltung„Ich brauche eine Genie“ zu zeigen?

Voll gerne! Ich finde ja auch, dass der Film einen feministischen Blick auf’s Dating liefert. Gerade auf die Geschichte von Jana kamen viele Reaktionen von Frauen, die so etwas in ähnlicher oder abgeschwächter Form schon erleben mussten. Aber auch die zum Teil verletzliche Selbstoffenbarung der Männer im Film gibt meiner Ansicht nach einen sehr interessanten Einblick in „typisch männliches“ Datingverhalten.

Im Herbst wird der Film bei www.dejavu-film.de  erscheinen. Neue Filme plane ich erst einmal nicht –  jetzt muss ich mich echt mal auf meine Musik konzentrieren.

Leonie Loretta Scholl

Studierte Medienwissenschaftlerin, gelernte Videoproduzentin, Musikjournalistin. Schrieb zuletzt mit Herzblut für das Intro Magazin und beschloss nach dessen Untergang, die Lieben ihres Lebens (Musik, Videos und Journalismus) zusammen zu bringen. Daraus entstand: The Radar. Nebenbei arbeitet sie in der Lehre und als Die Supererbin (Band). Außerdem ist sie freie Mitarbeiterin unseres Blogs hier. Weil sie aber so tolle Sachen macht, hindert uns das nicht daran, sie zu interviewen.