Dresden Dolls – Wenn die Mythen selbst sich ergeben

Amanda Palmer ist ein Mädchen wie aus einem Bilderbuch; einem Bilderbuch freilich, das sie selber entworfen hat. Ihre Kreativität ist so ungebrochen und prächtig, dass mir ganz warm ums Herz wird.

Bereits die überdreht-leidenschaftliche Website der Bostoner Dolls, die in einem finster-epochenreichen Puppenhaus spielt, bringt es ans Licht: Dieses Mädchen mit dem klingenden Namen kann gleichzeitig universell-wahrhaftig und hyperdetailliert-mythenreich sprechen. Und was sie sendet, atmet die Aura von schmutzigem Cabaret (Theaterschminke, Strapse, große Gesten) und spielt mit einer Faszination z. B. für das Deutschland der 1920er. Die Aufführung soll schließlich fabelhaft und erleuchtend sein und auf etwas verweisen, Geschichte. Wie hingetuscht passt dazu Palmers fliegend-virtuoses Klavierspiel, ihr pfeilscharf nuancierter Gesang, jeder Ton, jede Silbe, ein leiser Aufschrei und ein aggressives Flüstern; ein Ausdruck für jeden Fall. Und jedes Scheißgefühl. Natürlich darf der Mann mit Zylinder und erschöpfter Krawatte auch nicht fehlen. Es ist ihr Bandboy Brian Viglione, der genauso wild und improvisationspräzise Schlagzeug spielt wie Songschreiberin Amanda Klavier.

Es geht um die ganz großen Themen: Liebe, Schmerz, Angst, Girl-Anachronismen, Kindheit. Und um Autos. Wie im flockigen “Jeep-Song” von dem Debüt “Dresden Dolls” (2003), das minimalistischer und (riot-) punkiger, vor allem aber nihilistischer war (das das Nichts besser vertragen hat) als das opulente neue Album “Yes, Virginia”. Noch dichter: der Gesang, der sich ausweitet wie die Klavierklaviatur, in die er sich hineinfallen lässt. Melodien, die über mehrere Oktaven gehen, kaum ein Wort, das mit Gelassenheit intoniert würde, wunderschön die verwundbar-dramatischen “Oh Oh”s und “Ah Ah”s, die wie entfernte markerschütternde Kuckucksschreie über den Melodien neue Melodieteilchen bilden. Die Lyrics sind schon mal fünf Strophen lang oder zu direkt. Doch es werden hier eh so übermütige Wortkettchen und schwermütige Inhalte aufgerissen und weitergesponnen, dass ohnehin keine wirkliche Eindeutigkeit entsteht. “Es ist mir wichtig, dass die Texte Geheimnisse haben”, sagt dann auch eine entzückende Amanda, die mit feierlichem Ernst betont: “Band ist cooler als Einzelsängerin am Klavier.” Die Dresden Dolls spielen durchgehend an der Grenze von Avantgarde zu Mainstream, sodass man nicht sagen könnte, wo sie einmal ankommen werden.

Die wichtigste Frage aber: Warum ist diese Band mit ihrem wahnsinnigen Hang zum theaterhaften Aufführen von Rockmusik, inklusive Deutschland-Tick, so relevant, so geil? Die Antwort, ganz einfach: weil sie es mit Herz tut.

Und wenn es das Authentische in der Kunst ohnehin nicht gibt, warum sich dann nicht gleich ganz krass mit Klischees behängen? Bis die nur noch als finstere Hinweisschilder Versatzstücke sind – und sich aus dem Klischeehaften etwas ganz und gar Eigenes ergibt. Ja, bis sogar die Klischees, die Mythen selbst sich ergeben. Dazu braucht es allerdings eine natürliche Kraft zur Verwandlung, echten Eigensinn und einen Schmerz, der “aufhören” schreit. Denn es gibt immer zu viel Liebe zu geben, Delilah. Also weine nicht. “You’re still alive, Delilaaaaah.”

(Sandra, INTRO, 2006)