Die fabelhafte Wut der Anjali

Schokolade ist Macht!

»Ich glaube, ich war ein wenig verrückt, als ich beschlossen habe, Musik mit elektronischen Mitteln zu machen«, sagt Anjali, quite unverrückt, als begünstige Wahnsinn den ästhetischen Richtungswechsel, nachzuhören jetzt auf ihrem Debüt-Album ›Anjali‹.

Auf den grünen Wiesen des Gitarrenundergounds wird man die einstige Frontlady der englischen Trash-Rock-Combo Voodoo Queens dennoch vermissen. Wie die fabelhaft zwischen Schüchternheit und Trotz changierende Anjali virtuos die Tonleitern hochkletterte und mit ihren britischen Riot Queens buntrockende Songtapetchen aus Mädchen-Alltag und Traumleben anfertigte: das hatte Stil!

Schon 1993 beweiräucherten sie UK-Charts-stürmend Bulimie und Magersucht.

›Superficial Supermodel‹, war ein Insider-Hit, lange bevor das Thema dann auch mal auf den »Problemseiten« der Illustrierten auftauchte. Bei ihren Konzerten verteilten sie Süßigkeiten ans Publikum. Motto: Schokolade ist Macht.

»Mittlerweile sind Ess-Störungen auch ein Thema für die Öffentlichkeit, was die Medien aber nicht daran hindert weiter an den Bildern makelloser Körper festzuhalten«, bekräftigt Anjali. »Sie kennen nur den Typus ›large sized model‹.« Und manchmal glaubt Anjali schon, daß sich das nie mehr ändern wird. »Alles wird von Glamour bestimmt, von talentlosen VJs und kindlichen Frauen. Dabei leidet doch immer noch jede Zweite an einer Ess-Störung!«

Ja, seltsam, daß sich außerhalb des kleinen Planeten Riot-Girl, so gar keine (europäischen) Musikerinnen finden, die Lust hätten darüber mal Songs zu schreiben. Anjali lächelt Zustimmung: »Eine große Leistung wäre das ja nicht gerade, oder? Es erschien uns als Band jedenfalls leichter darüber zu singen als einfach mitzukotzen.«

Das vielseitige Schönheitsideal immerhin eingeklagt zu haben, hat den Voodoo Queens ein Fenster-Plätzchen in der Riot Girl-Geschichte gesichert. Und handelte Rock ’n’ Roll je von etwas anderem als von »Obsession« – um mit der legendären Kate-Moss-Werbekampagne zu sprechen? Davon abgesehen, muß Musik natürlich kein Thema haben. Schon zu Riot-Zeiten hat sich die fabelhafte Anjali über mangelnde Musikalität beschwert. »Ich hatte schon mit zwölf Jahren Gitarrenunterricht, soll ich mich dafür etwa schämen?« Natürlich nicht.

1995, als Britpop das Ding der Stunde wurde, haben die britischen Music Weeklies die »schrägen« Voodoo Queens so schnell wieder fallen lassen, wie sie sie aufgrund eines Demo-Tapes hochgehypt hatten. Anjali ist noch immer schlecht auf die Brit-Pop-Elite zu sprechen. »Wir waren kurz davor in die Top Ten einzusteigen. Da überschwemmte diese besoffene Lad-Kultur das Land, und aus Riot Girls wurden Spice Girls. Denn fortan drehte sich alles nur noch um die Boys.« Anjali hat daraus die denkbar genialsten Schlüsse gezogen: »Je schneller man die Mädchen-Themen durch hat, desto besser kann man sich wieder auf die Musik konzentrieren.«

Und so bastelt sie heute aus indischer Filmmusik, hypnotischen Dance-Klängen und alten Orchester-Samples höchst innovative Easy-Lounge-Tracks – eine schlaue Alternative zu den Voodoo Queens. »Bitte schreibe, daß die Tracks eine ruhige Wut zum Ausdruck bringen – es macht keinen Sinn, immer nur laut zu sein.« Die Tracks bringen also eine ruhige Wut zum Ausdruck. »Ich möchte die Leute dazu bringen, sich zu entspannen. In einer stressigen Welt spiele ich gerne für die Party nach der Party.« Und: »Es kostet viel Geld und Zeit, auf elektronisches Equipment umzusteigen. Ich habe mir den Sampler seinerzeit vor allem gekauft, um meine Sammlung indischer Filmsoundtracks nicht verkümmern zu lassen.«

›Lazy Lagoon‹, ›Space Lust‹ oder ›Nebula‹ heißen wuschig die Tracks. Orchester-Samples lassen Watte schweben. »Ich wollte einen Sound entwickeln, der nur auf mich verweist, etwas, das man nie zuvor gehört hat. Jedes Mittelmaß vermeiden.«

Aber auch Anjalis erhabene Experimentierergebnisse haben ihre Vorgängerinnen – man denke an die britische Electronica-Chanteuse Danielle Dax. Auch Girl-Pionierin Kathleen Hanna tauschte bekanntlich früh Elektronikboa gegen Gitarrenhonda.

Welche kommerziellen Erwartungen knüpft Anjali an ihre CD? »Überhaupt keine. Der größte Erfolg besteht für mich darin, daß ich sie zu Ende produzieren konnte. Mein Geld werde ich wohl weiterhin mit Plattenauflegen verdienen.«

Sagt’s und bürstet sich das volle Haar seidig für den bevorstehenden Fototermin. Dann steht sie auf, streicht noch schnell die Jacke glatt und deutet auf das fröhliche Schokoladen-Durcheinander, das vorweihnachtlich lieblos vor uns auf den Tisch gewürfelt wurde. Die ganze Packung Bountys, Mars und Snickers, die ich während des Gesprächs einfach ignoriert habe – wie billige Symbole auf der Tapete eines überstandenen Alptraums.

»Wer soll das alles essen?« fragt Anjali und verharrt unschlüssig vor dem Kindernaschzeugs. »Nimm Dir ruhig welche mit nach Hause!« Ich werfe schnell, damit keiner mich beobachtet und denkt, wie herrlich verrückt die Grether heute wieder ist, ein paar Bountys in meinen Rucksack. Anjali schnappt sich ein Snickers.

Es ist erschreckend, aber wahr: Schokolade ist Macht.

 

(Kerstin, INTRO, 2000)