Angel Olsen – Big Time (Album-Review)

von Kersty

Das Porzellan inside, in dichte, dunkle Watte verpackt

(11) Angel Olsen – Through The Fires (Lyric Video) – YouTube

Heute erscheint  “Big Time”, das sechste Album der US-amerikanischen Sängerin und Songschreiberin Angel Olsen (Cargo Records).

Es ist so gut, dass ich es beinahe nicht ertragen kann. Gleichzeitig wird man sofort süchtig danach. Big Drama mit minimalen Mitteln und trotzdem alles im Einsatz, was geht: Orgel, Streicher, Gitarren. Die Sehnsucht nach den kleinen Dingen und der Sprung durchs Feuer. Motto: „I am loving you – Big Time.“

Gerade letzte Woche noch über gutes und schlechtes Pathos gelernt. Das hier ist bestes Pathos.

10 Songs übers Zu-Sich-Selbst-Stehen und Loslassen, die man kaum mehr loslassen will.

Selten einen darken Schmerz gehört, der so behutsam mitfließen darf, ohne ausgestellt oder beiseite gedrängt zu werden.  Das Porzellan inside, in dichte, dunkle Watte verpackt, und in neue Paradies gehievt.  Als würde man versuchen den Menschen, der man einst war, aus einer lieblosen Umgebung herauszuholen und ihm das zu geben, was er bislang vermisst hat.

Die Melodien sind immer schön und trotzdem nie Pop, die Lyrik immer Tagebuch, und trotzdem auf den Punkt. Die Gefühle aus der Gegenwart gegriffen und weit zurückreichend.

Das Tempo: sehr langsam. Nie Mid-Tempo, manchmal kurz davor, aber immer mitreißend wie ein tiefer Fluss.

„Some truth is never known until you ve lost your hand“ singt sie mit bewegtem Gleichmut in „Right now“, einem Song aus Schwermut und melodiösem Schwung gebaut.

Alles zusammengehalten, von most of it all: Angel Olsons Stimme.

Eine große Stimme, die jedes kleine Gefühl mitnehmen kann. Und jedes große. Die Stimme allein würde das Album schon tragen.  Angel Olsen singt sooo toll! Sooo klangvoll und dunkel. Zartbitterschokolade mit circa 70% Kakao. Schwebendster Free-Ride, eine Stimme wie eine Kirchenorgel.

Wie sie mit dieser Zauberstimme ihre wohldurchdachten Zeilen anschubst, die sich dann wie von selber in den Takten verteilen.  Wenn sie dann schimmern, die Texte, ist es nicht vintage oder Cat Power, nicht wie abgesplitterter Nagellack, sondern ein perfekt auf der Stirn sitzendes Haarband.  Edel auf die Pop-Nomaden eines neoliberalen, globalisierten Lebensgefühl im Hier und Heute abgestimmt.

Eine Platte, die unbedingt auf die nächste Fernreise mitmuss, wo man zwischen Starbucks Coffee und recycelbarer Unterwäsche unbedingt achtgeben muss, dass man nicht verloren geht. „Thanx for the free ride and all of the good times!“ Immer edel, nie abgewrackt, aber das macht nichts. Man möchte immerzu von dieser Stimme angehaucht, angeflüstert, angeschubst werden. Ihr gelingt das Kunststück so gar nicht aufdringlich zu sein – diese Stimme will dir nichts verkaufen – und trotzdem ist sie eindrucksvoll wie die Hölle.

Suchtgefühl stellt sich wie gesagt, schon nach kurzem Zuhören, sofort ein.

Angel Olsen weiß aber auch zu genau, wann eine Schrammelgitarre vonnöten ist, wann es auch eine Orgel tut und wie man lakonische Sätze genau so melodiös hält, dass der Kaffee im Becher nicht überschwappt.

Wenn sie mal anklagend wird,  z.B. im Titeltrack, dann im selben Atemzug immer auch verzeihend; weiser geht’s nicht mehr, wenn man vom Lieben und vom Leben erzählt, sich zutraut auch in die harten Zeiten zu gehen. Sich von unten bis oben mit Verlust und Schönheit anreichernd. Alle Zustände zwischen „schwer“ und „leicht“ auslotend:„This is how it works for me now“ singt sie etwa. Nie weit von Tagebuchlyrik entfernt, trotzdem perfekter Songtext. Weil alles so abgewogen klingt, wie wenn man einen neuen Gedanken zum ersten Mal denkt und dann auch schon exakt richtig notiert.  Gutes Pathos will nicht beeindrucken, aber es beeindruckt.

Am besten umschrieben wäre das Album vielleicht mit den Zeilen „I`m living, I`m loving, I`m losing.“ Dabei werden keine Details von Geschichten erzählt, sondern Einzelheiten von Gefühlen.

Aber vielleicht könnte Angel Olsen auch einfach alles singen, Inhalt egal: Mit dieser Stimme alles und jeden über alles und jedes hinwegtrösten.

Dabei hat „Bis Time“ einen ernsten Hintergrund: Olsons Eltern starben im letzten Jahr innerhalb weniger Monate, kurz nachdem sie ihnen gestanden hatte, dass sie fortan queer leben will.

„Some experiences make you feel like you’re five years old“, schreibt sie nun. „Finally, I was free to be me.“

Das hört man. So frei, dass sie spontan sich selbst sein kann. Auch ein bisschen gruselig, wenn dafür erst die Eltern sterben müssen. Ich möchte diesen Zustand lieber vorher erreichen. Die Platte wurde in kurzer Zeit geschrieben und im Studio von Jonathan Wilson in LA aufgenommen.

Zehn Songs zum Durchatmen und Dahinschmelzen sind so entstanden, und auf jeden Fall eines der großen Alben dieses Jahres.

P.S. „Seit k.d. lang oder – in letzter Zeit – Weyes Blood hat man solche opulent arrangierten, intim schimmernden Songs nicht gehört,“ lese ich gerade im deutschen Rolling Stone. Naja, ist bestimmt gut gemeint. Aber wir wollen doch nicht autoritäres Schubladendenken befeuern und Musiker*innen je nach sexueller Orientierung zwangsläufig aufeinander beziehen, nur weil k.d. lang auch lesbisch ist. Davon abgesehen, dass es in letzter Zeit recht viele Platten gegeben hat, die auf diese Weise produziert worden sind: Opulent arrangierte Minimalistik ist nicht weniger als das Ding der Stunde.